Über „ATARA – for you, who has not yet found the one“ von Reut Shemesh

Wann: 14.05. + 15.05.
Wo: tanzhaus nrw
tanz nrw 19

Im Kreis der Familie von Ina Holev

Ruhende Hände über einem Gebetsbuch, eine verschleierte Braut, nachdenkliche Frauen in Perücken. Zu Beginn der Performance „ATARA – for you, who has not yet found the one“ geben atmosphärische Fotos bereits einen Einblick in das Leben streng orthodoxer jüdischer Frauen, in diesem Fall aus der Gruppe der Chassidim. Es ist ein sehr persönliches Thema, dem sich die aus Israel stammende und in Köln lebende Choreografin Reut Shemesh widmet. Während ein Teil ihrer Familie eher säkular geprägt ist, lebt ein anderer Teil streng religiös. Die Performance fand im Tanzhaus NRW im Rahmen des Festivals tanz nrw 19 statt und soll eine performative Annäherung an die chassidische Lebensweise bilden.
Drei Performer*innen befinden sich auf der Bühne, darunter ein als Cis-Mann gelesener Tänzer in Drag. Sie alle tragen lange Röcke und Blusen, doch durch teils glitzernde und transparente Materialien durchbrechen diese die sonst vorherrschenden Bekleidungscodes. Dazu tragen sie Perücken, wie sie auch von einigen chassidischen Frauen im Alltag getragen werden. Die Performer*innen nennen zu Beginn des Stücks Stereotype, die über religiöse Frauen herrschen – etwa, dass diese keine Feministinnen seien können.
Shemesh hat für ihr Stück verschiedene Frauen interviewt, einige Stimmen ertönen als verfremdete, roboterartige Interviews über die Lautsprecher. Zudem gibt es erfreulicherweise auch eine Begleitung durch Deutsche Gebärdensprache. Doch das visuell schon starke Stück hätte das begleitende Interview nicht unbedingt nötig, da es hier schon viele andere Eindrücke zu verarbeiten gibt. Es ist eine Performance voller emotionaler Kraft, in welcher die Performer*innen sich zunächst ausgelassen zu lauter, elektronischer Musik in einem Kreis bewegen. Diese Bewegungen wirken fast wie eine Mischung aus einem Rave und dem israelischen Volkstanz Horah. Eine Performerin tritt anschließend aus dem Kreis und fängt an, mit einnehmender Stimme auf Hebräisch zu singen. Auch ohne Verständnis des Textes zieht ihr Gesang das Publikum in den Bann, bis sie urplötzlich verstummt und sich wieder den anderen Tänzer*innen anschließt.
Die Performer*innen bewegen sich hektisch zwischen den Ecken des Raums, ehe sie sich langsam wieder näherkommen. Wie auch in Reut Shemeshs Stück „LEVIAH“, sind ihre Bewegungen dem Spannungsfeld von Intimität und Gewalt ausgesetzt: mal berühren sich die Performer*innen zärtlich, mal schieben sie sich kraftvoll voneinander fort. Trotzdem herrscht konstant eine Nähe zwischen ihnen. Beeindruckend ist ein Bild, in welchem sich die Performer*innen gegenseitig immer wieder umgreifen, möglicherweise eine choreografische Annäherung an den starken familiären Zusammenhalt in chassidischen Familien.
Gegen Ende des Stückes nehmen die Performer*innen ihre Perücken ab. Doch dies als eine Befreiung vom religiösen Patriarchat zu deuten, wäre zu einfach. Die Möglichkeit zu einer einfachen Interpretation wird verweigert: so tauschen sie untereinander ihre Kleidung und Perücken und setzen sie wieder auf – eine Neuverwandlung innerhalb der Gemeinschaft. Das familiäre Netz bleibt, manchmal eingrenzend, manchmal stützend. Teils verletzend. Eine Ansprache an Menschen, die vor dem Druck einer Heirat oder Familiengründung stehen, schließt das Stück ab. Wie können Regeln und Rituale heilend sein, wie können sie einschränken? Wie können sie neu interpretiert werden? „ATARA – for you, who has not yet found the one“ bietet nicht nur Einblick in chassidische Familienstrukturen, sondern lädt zur einer allgemeinen Reflektion über Verwandschaft und Familientraditionen ein.

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