Wann: 16.12. – 18.12.
Wo: tanzhaus nrw
Reihe Kleine Monster
#1 Pick ’n’ Mix von Charlotte Decaille
#2 Was Kinder über Geschlechterrollen denken (sollen) von Sofia Andersson
Pick ’n’ Mix von Charlotte Decaille
„Pink for Girls and Blue for Boys“ – ein Konzept, an welches sich die Schweizer Choreografin Tabea Martin und die vier Tänzer*innen nur bedingt halten. Die Performance verläuft frei nach der Idee: egal ob biologisch Mann oder Frau, verkörpere das, was dir in den Sinn kommt!
Schüchtern betritt ein leicht bekleideter Tänzer die Bühne. Leicht bekleidet, da er bis auf eine hautfarbene Unterhose und einem um den Kopf gewickelten Handtuch nur eine Mikrowelle in den Armen trägt, die er vorsichtig in der Mitte der Bühne platziert. Drei weitere Performer*innen, ein Mann und zwei Frauen, betreten zielstrebig die Bühne, ebenfalls nur in Unterwäsche und mit unterschiedlichen Utensilien bepackt. Tassen, Pflanzen und Sitzkissen werden in der Nähe der Mikrowelle abgelegt und ergeben ein minimalistisches Bühnenbild. Über einen kleinen Lautsprecher ertönen Jazzsounds, zu welchen sich die Tänzer*innen erst zaghaft dann lebhafter bewegen, während sie in schwarze Ganzkörperanzüge schlüpfen. Es entwickelt sich eine Synchronität zwischen den zwei Tänzerinnen, welche sich gleichmäßig schwingend bewegen, während die zwei Tänzer dominanter, fast schon marschierend auftreten. Um dieser Dominanz noch mehr Ausdruck zu verleihen, stellen sich die Tänzer über die nun am Boden liegenden Tänzerinnen und deuten an, sich auf den Gesichtern der Frauen niederlassen zu wollen. Über diesen anzüglichen Versuch der Annäherung empört, reden sie wütend auf die Männer ein. Aus der Unruhe, die mittels melancholischer Harfenmusik abgemildert wird, bildet sich das „klassische“ Duo von Mann und Frau. Weiche Bewegungen des Balletts bringen die beiden Geschlechter schließlich zusammen. Harmonie, Intimität, ein Kuss zwischen Mann und Frau. Um der männlichen Dominanz ebenbürtig begegnen zu können, versuchen die Tänzerinnen die Tänzer zu tragen. Ihr Scheitern artet in eine extreme Überziehung der Situation aus: „Mädchen sind schwach. Mädchen können nichts alleine. Mädchen haben Angst vor allem. Mädchen können nur eines gut: Weinen.“ Diese Parolen werden von den Performerinnen mit vollster Überzeugung in die Reihen gerufen. Das Publikum ist sichtlich bemüht diese kritischen Aussagen wegzulächeln, da es sich zweifellos um veraltete Klischees handelt, die heute keine unterstützenden Stimmen mehr finden würden. Oder?
Als ob sie diesen Ansichten trotzen wollen würden, kreisen die Tänzer nun lasziv ihre Hüften. Eine Bewegung, die in diesem reizvollen Ausmaß eher mit dem weiblichen Geschlecht assoziiert wird. Anstelle es ihnen gleichzutun, bestätigen die Tänzerinnen ein Klischee, indem sie den Raum mit lautem, kindlichem Weinen erfüllen. Die Tänzer lassen von den Bewegungen ab und wenden sich den Frauen zu. Sie wiegen die Performerinnen beruhigend in ihren Armen. Der Umstand der väterlichen Fürsorge bringt die Männer näher. Sie küssen sich, was zur Aufheiterung der Frauen beiträgt. Die falschen Tränen weichen einem überzogenen, fast schon degradierenden Lachen, welches die Tänzer enorm verunsichert. Ihre Rechtfertigung äußert sich in Wut und in Handgreiflichkeiten, die bei den Tänzerinnen das Verlangen auslösen, sich ebenfalls küssen zu wollen. Neidvoll auf die Zärtlichkeiten der Frauen blickend, stattet sich ein Tänzer mithilfe eines Handtuchs mit den sekundären Geschlechtsmerkmalen einer Frau aus und stimmt mit hoher Stimme ein, als die Performerinnen selbstbewusst rufen „Ich bin eine Frau.“
Die offensichtliche Unklarheit über ihre Zugehörigkeit bringen die Tänzer*innen jetzt zu ihrem Höhepunkt. Ein gepolsterter Schritt, üppige Brüste und ein Bizeps aus Schaumstoff sowie High Heels aus Ziegelsteinen und hier und da eine Schwimmnudel als Accessoire. Zu Róisín Murphys „Ramalama“ schmücken sie sich mit den absurdesten Gegenständen. Der einst herrschende Minimalismus gleicht einem Schlachtfeld der Kostümierung.
Die Performance hat in ihrer Skurrilität alle Hemmungen verloren und bringt endlich Farbe ins Spiel. Die Tänzer*innen trinken das „Gender“ ihrer Wahl, bieten den Zuschauer*innen einen Schluck an, laden sie ein, Offenheit, Toleranz und Neugierde zu zeigen. Doch als würde ihnen der Zwang des Entscheidens nicht schmecken, spucken die Tänzer*innen den Schluck „Gender“ wieder aus. Die Performance ist zwar eine schwer zu verfolgende Abfolge von Emotionen und Eindrücken, doch gleichzeitig auch Medium einer klar formulierten Nachricht: Es sind nicht nur Ideen wie „Pink for Girls and Blue for Boys“, sondern der generelle Gedanke allem unbedingt ein Label aufdrücken zu wollen, von welchem wir uns lösen müssen. Dies müssen wir tun, um uns, und vor allem Kindern, innere und nach außen getragene Konflikte zu ersparen und die Identitätssuche zu vereinfachen – abseits von Stereotypen und veralteten Erwartungen an unser Geschlecht.
Was Kinder über Geschlechterrollen denken (sollen) von Sofia Andersson
Für die Entwicklung von „Pink for Girls and Blue for Boys“ befragte die Choreografin Tabea Martin Kinder zu ihren Erfahrungen mit Geschlechterklischees. Nicht überraschend, dass sie schon Kinder ab dem achten Lebensjahr in die Performance einlädt, um diese Klischees zu hinterfragen.
Der Beginn der Performance ist von einem Gefühl von Leichtigkeit geprägt: Die vier Tänzer*innen füllen den Bühnenraum mit guter Laune. Sie sind nur leicht bekleidet, dennoch treten sie selbstbewusst auf. Spielerisch vollziehen sie den Aufbau des Bühnenbildes, bestehend aus einem zusammengebauten Sofa, einer Pflanze, Wasserflaschen und einer Mikrowelle. Das warme Bühnenlicht gibt den Zuschauer*innen das Gefühl direkt neben den Tänzer*innen auf dem Sofa zu sitzen. Hebefiguren und großflächigen Sprünge der beide Paare bringen die Zuschauer*innen jedoch wieder in eine beobachtende Position. Im Laufe des Geschehens, in welchem die Körper der weiblichen Tänzerinnen alle Höhen und Tiefen durchlaufen, ziehen sich die Performer*innen schwarze Anzüge an. Neutralität scheint der Ausgangspunkt dieser Geschichte zu sein. Jedoch fällt auf, dass nur die Männer die Frauen heben. So bleibt der Rollentausch erfolglos: Die Tänzerinnen sind zu schwach die Tänzer hoch zu heben. Eine Tänzerin beginnt auf Spanisch zu schreien, dann die Nächste, die dabei übersetzt „Frauen sind immer schwach. Frauen können das nicht. Frauen können kein Fußball spielen, oder überhaupt etwas, was mit einem Ball zu tun hat machen. Sie sind dumm und können nichts“. Währenddessen mühen sich die Tänzerinnen ab, die Tänzer zu tragen. Wieder Schreie: „Sie weinen nur“. Und wie auf Kommando fangen die Frauen an zu weinen.
Der Tanz ist geprägt von wellen- und kreisartigen Bewegungen, die eindeutig auch als sexuelle Andeutungen zu verstehen sind. Doch ohne den Umgang mit Sexualität auf der Bühne zu reflektieren, wird schon das nächste Klischee auf die Bühne gebracht. Die zwei Paare begegnen sich. Nach einem heftigen Streit scheint sich nur ein Paar versöhnt zu haben, während das andere nur so tut. Die Paarkonstellation wird schließlich aufgebrochen und aus den Hebefiguren ergeben sich Figuren, die aus drei Personen bestehen, die sich dann auch küssen. Jetzt küssen sich auch nur die Männer und nur die Frauen. Die Aufteilung in Mann und Frau verschwimmt zunehmend.
Nach ohrenbetäubendem Geschrei der Frauen, fangen auch die Männer an zu weinen. Männer können also auch weinen. Doch war das schon alles? Die Performance könnte Stereotypen zu Männern noch mehr thematisieren. Die beiden Tänzer heben sich nun gegenseitig hoch und tanzen miteinander, während die Frauen in der ersten Stuhlreihe sitzen und diese gehässig auslachen. Der von Formationen und Rollen geprägte Tanz scheint wieder Struktur in die Performance zu bringen. Plötzlich fängt ein Tänzer an, opernhaft zu singen: „Ich bin ein Maaaaaann“. Die Tänzerinnen setzen ebenfalls ein und es bildet sich ein harmonischer Chor, der einen an die erste Szene erinnert. Doch etwas passt nicht ganz in das System: Ein Tänzer singt mit hoher Stimme „Ich bin eine Frau“. Er führt dies fort, bis er von dem anderen Tänzer unterbrochen wird. Er singt die falschen Worte. „Alle Mädchen heben die Hand“ ruft eine der Tänzerinnen. Eine Sekunde später folgt der Ausruf eines Tänzers: „Alle Jungs heben die Hand“ Das raffinierte Spiel mit den Zuschauer*innen, lässt sie selbst erkennen, dass sie alle gleichwertig sind: Sie haben alle die Hand gehoben. Schließlich ziehen die Tänzer Styropor und Schaumstoffteile aus dem Sofa. Die Tänzer basteln sich Brüste, die Tänzerinnen Penisse. Zu indisch anmutender Musik verwandeln sich die Performer*innen nach und nach in Katzen, Ritter und Könige. Einer der Tänzer trägt Stöckelschuhe, eine andere Tänzerin verbirgt ihr Gesicht hinter massenhaft Puder. Die vielfältigen Ereignisse auf der Bühne enden in einem bunten Chaos.
Bei „Pink for Girls and Blue for Boys“ tritt keineswegs Langweile auf. Gemischte Gefühlen und auch Unwissenheit bleiben jedoch zurück. So schafft es Tabea Martin nicht, Fragen zu Geschlechterrollen zu beantworten, ganz sicher regt sie aber zum Nachdenken an.