Über „Dança Doente“ von Marcelo Evelin

Wann: 27.10. + 28.10.
Wo: tanzhaus nrw / Im Rahmen der Reihe CEREMONY NOW!

(Un)kontrollierte Körper von Christina Sandmeyer

„Tanzen“ ist ein mit Assoziationen beladenes Wort, das ein Bündel bewusster oder auch ganz unbewusster Erwartungshaltungen mit sich trägt. Was ist Tanzen? Eine spezifische Form, den Körper zu bewegen, sich „schön“ zu bewegen, Kontrolle über den Körper zu haben…? Die Performance „Dança Doente“ (übersetzt „Kranker Tanz“) setzt hinter diese Kette von Erwartungshaltungen ein ausdrückliches Fragezeichen. Denn das, was Marcelo Evelin mit seiner Kompanie Demolition Incorporada auf der Tanzhaus-Bühne zeigt, ist ungewohnt anders. Die neun Performer*innen bewegen sich, als versuchten sie, aus ihrem Körper auszubrechen, als versuchten sie, alles loszuwerden, was sich in den kulturell genormten Körper eingeschrieben hat. In den Bewegungen überlagern sich Momente des Verkrampfens und der Auflösung. Die Tanzenden scheinen von etwas Äußerem besessen zu sein und gleichzeitig eine ungemeine Kontrolle über ihren Körper zu haben. Es sind diese inneren Spannungsfelder, die das Bewegungskonzept in „Dança Doente“ so radikal anders machen.
Hintergrund der Bewegungssprache von Marcelo Evelin ist seine intensive Auseinandersetzung mit den Körperkonzepten des japanischen Choreografen und Tänzers Tatsumi Hijikata, der maßgeblich den Butoh als Tanzform geprägt hat. Butoh ist in den 50er Jahren in der Aufarbeitung um das Trauma Hiroshimas entstanden und sollte sich gegen die verharmlosende amerikanische Unterhaltungsindustrie nach dem Zweiten Weltkrieg wenden. Daraus entwickelt hat sich eine Tanzform, die das Absurde und Groteske in den Mittelpunkt rückt und dem „kommerziellen“ Tanz den Rücken kehrt: Die Fußspitzen der Tanzenden sind im Kontrast zum klassischen Ballett konsequent nach innen gekehrt, die Mimik ist sehr hart, und die Blicke sind nicht um eine besondere Präsenzausstrahlung bemüht. Die krampfhaft wirkenden Bewegungen scheinen den Gegensatz zum hoch-artifiziellen Ballettkörper komplett zu machen. Unterstützt wird diese spezifische Form der Inszenierung von Körperlichkeit über den spielerischen Einsatz von Bekleidung: Transparente Leggins, lange Baströcke, Gewänder, Nacktheit. All das vereint die Performance wie in einem Strom, der scheinbar immer auf der Suche nach dem puren ungeformten Körper ist. Die Stimmung ist dabei gleichzeitig voller Leidenschaft und ungeheurer Gewalt, geprägt von individuellen Auseinandersetzungen in einem kollektiven Zeremoniell – ein exzessiver Zusammenschluss der Themenreihen Real Bodies und Ceremony Now.
Doch was man wirklich auf der Bühne sieht oder sehen soll, bleibt rätselhaft. Die einzelnen Szenen leben losgelöst von jeder Zeitordnung in sich selbst, die Übergänge sind leicht zu übersehen. So bleibt am Ende der Aufführung ein einzelner Performer mit Bastrock und einer Ukulele, der die Bühne schließlich mit einer beklemmenden, fast provokativen Langsamkeit verlässt. Der Applaus des Publikums ist verhalten – kaum jemand scheint zu verstehen, was in den letzten 90 Minuten passiert ist. Die Tänzer*innen kommen abschließend mit ernsten Mienen zum Applaus auf die Bühne und verbeugen sich in unmittelbarer Nähe vor den Zuschauer*innen der ersten Reihe. Die Grenze zwischen Aufführungszeit und „realer“ Zeit wird eingerissen.
Marcelo Evelin und seine Kompanie fordern das Publikum mit „Dança Doente“ provokativ zur Auseinandersetzung mit Tanz, Körperlichkeit und auch Zeitlichkeit heraus. Einige Zuschauer*innen sind schon während der Aufführung gegangen und haben sich dieser Provokation entzogen. Wer bis zum Ende durchgehalten hat, verlässt verstört den Saal. Denn das, was das Stück herausfordert, ist eben auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Wahrnehmung.

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