Wann: 08.09. – 10.09.
Wo: tanzhaus nrw // Dt. Erstaufführung / Spielzeiteröffnung
#1 Gott ist tot, lang lebe der Gott! – Eine Reportage von Laura Biewald
#2 „SACRIFICE“ – Eine exzessive Poesie der Aufopferung von Bastian Schramm
Gott ist tot, lang lebe der Gott! – Eine Reportage von Laura Biewald
Mit der Iceland Dance Company und ihrer deutschen Erstaufführung von „Sacrifice – A festival of common things made holy“ eröffnete das Tanzhaus NRW vom 15. bis 17. September seine Spielzeit 2017 unter dem Motto „CEREMONY NOW!“
Spitze, gellende Frauenschreie dringen in gedämpfter Form an meine Ohren, auf die ich meine Finger festgedrückt halte, um die intensive Geräuschkulisse um mich herum nicht in voller Lautstärke mitzubekommen. Nach einer Weile lockere ich vorsichtig den Druck meiner Fingerkuppen vom Eingang meiner Gehörkanäle und presse sie schnell wieder zu. Es ist noch zu früh. Die Schreie sind noch zu laut. Ich muss warten, bis die Orgie, die sich vor mir und den zahlreichen Zuschauer*innen auf der Bühne abspielt, vorüber ist.
Etwas früher auf dem Weg ins Tanzhaus NRW zu dem vierstündigen Happening in vier Teilen bin ich noch völlig ahnungslos, was mich erwarten wird. Nur eines weiß ich sicher: Es wird spät werden. So eine zeitintensive Show, die muss gut organisiert sein, denke ich. Und so bin ich gespannt, was die drei Personen, die zu Beginn vor den Vorhang treten, dem Publikum zu sagen haben. Erna Ómarsdóttir, eine kleine Frau in kurioser Kostümierung zwischen Clown und Piratenbraut, macht den Anfang. Sie begrüßt die Zuschauer*innen und stellt sich als künstlerische Leiterin der Iceland Dance Company vor. Durch die schüchtern wirkende, nachdenklichen Weise zu sprechen, wird nicht ganz klar, ob diese Ansprache bereits Teil der Performance ist: Sind die drei Personen bereits in ihre Rollen geschlüpft oder stehen sie noch als Erna Ómarsdóttir, Fridgeir Einarsson und Sigtryggur Berg Sigmarsson dort vor den Zuschauer*innen? Einarsson, der als Moderator durchs Programm des ganzen Abends führt, lässt erst einmal den Luftballon mit allen möglichen Zuschauererwartungen an solch einen langen Abend platzen. Er erzählt die persönliche Anekdote von einem Marathonlauf, bei dem er weniger Zeit benötigt habe als es das folgende Programm zu tun vermöge. Der Witz kommt an, die Zuschauer*innen lachen. Selbstironie, gepaart mit Charme und einer Prise Humor, die stets zum richtigen Zeitpunkt, aber gänzlich unerwartet eingestreut wird – das ist das Geheimrezept des Abends und letztlich genau der Grund, aus dem mir bis zum Ende des Abends nicht die Puste ausgeht.
Nachdem also das Eis gebrochen und das Publikum eingestimmt ist, kann es losgehen. Doch auf das, was dann passiert, bin ich nicht vorbereitet: Mitreißendes Tanztheater, poppig, düster, überladen, die Story bleibt zunächst noch unklar. Wie in einem antiken Zirkus werden in „Shrine“ kleine Kunststücke mit schwarzen Gummireifen vorgeführt. Die Bühne dient als Manege, auf der sich die Tänzer*innen in schnellem Tempo durch den Raum bewegen, von rechts nach links, diagonal, im Kreis. Mal bilden sie Gruppen, um dann wieder auseinanderzugehen, sodass es schwer ist, dem Bühnengeschehen in seiner Gesamtheit zu folgen. Insbesondere wird die volle Aufmerksamkeit der Zuschauer*innen auf die Geräuschkulisse gelenkt: Sich in schwarzen Gummischläuchen, die wie gefährliche Würgeschlangen anmuten, räkelnde Frauen stoßen Schreie aus, die tief aus ihrem Innern zu kommen scheinen und die im Laufe der Performance immer lauter werden, immer schneller aufeinander folgen und sich gegenseitig bis zur Ekstase anzustacheln scheinen. Dieses immer wiederkehrende archaische, inbrünstige Gebrüll und Aufheulen der Performer*innen fasziniert mich und lässt mich zugleich erschaudern.
Ich sitze also dort mit zugehaltenen Ohren, während die Kernaussage der Performance bei mir ankommt: Hier geht es um Rituale, Opferungen, Exzesse.
In der Pause schlendere ich durchs Foyer, um mir auf dem Basar die Stände kreativer Visionär*innen anzusehen. Auch das gehört zur Show. Beim Stand des Düsseldorfer Aufklärungsdienstes e.V. erstehe ich gleich drei Götterbilder im „Schlussverkauf“ und versuche hinter das Konzept von „Sacrifice“ zu steigen. Beim nächsten Stand fällt mir ein Flyer ins Auge, der denselben Titel wie der Abend trägt. Er bezieht sich allerdings nur indirekt auf ihn, denn „Sacrifice“ ist der Name einer Gesellschaft für Menschen, die sich im Glauben an die Kunst als Gottheit vereinen und sich ein Leben, das von kreativer Arbeit geprägt wird, als höchstes Ziel setzen. Diese Gesellschaft wurde von keinen geringeren als Erna Ómarsdóttir und ihrem Lebenspartner und Mitgestalter des Programms, Valdimar Jóhannsson, selbst ins Leben gerufen und ist genau die Idee, die dem Stoff der vierteiligen Show zugrunde liegt: die Glorifizierung von Kunst als anbetungswürdige Instanz, als Religion.
Mit diesen Informationen und meinen drei Götterbildern gehe ich weiter zur kleinen Bühne, wo der Videoloop „Dies Irae“ gezeigt wird. Der Film der bildenden Künstlerin Gabriela Fridriksdóttir zeigt teils realistische, teils abstrakte Filmsequenzen in Schwarz-Weiß von Körpern, die mit den Elementen kämpfen, mit diversen Materialien verschmelzen, sterben und wieder auferstehen: Mal werden sie im Sand begraben oder ertrinken in einer Art schwarzer Milch, mal versuchen dunkle Gestalten in Kutten Haarbüschel festzuhalten, die vom Wind hin und her geweht werden. Eine Requisite, die bereits in der „Shrine“-Performance zum Einsatz kam, als die Tänzer*innen sie wie Cheerleader-Pompons durch die Luft wirbelten. Auch die Frau im Piraten-Clown-Kostüm taucht zwischendurch auf und lacht stumm in die Kamera. Die Bilder sind dunkel, teilweise invertiert, wirken beklemmend und werden von einer nicht weniger unheimlich klingenden Melodie begleitet. Es ist der rückwärts abgespielte Gesang gregorianischer Mönche, die den Totenmessentext „Dies Irae“ von Thomas von Celano rezitieren.
Ich frage mich, warum all das, was ich bisher von „Sacrifice“ gesehen habe, so düster und unheilvoll daherkommt, wenn die Künstler selbst doch scheinbar dem Gott der Kunst huldigen und Kreativität als Glauben praktizieren? Dann müsste doch eigentlich alles in hellen Farben leuchten, die Freude und nicht der Tod im Vordergrund stehen und eine schillernde Freudenmesse abgehalten werden? Oder ist es genau diese Erwartungshaltung, mit der Ómarsdóttir und Jóhannsson spielen? Wollen sie sogar eine Warnung aussprechen, davor, dass jede Maßlosigkeit mit Vorsicht zu genießen ist, dass jeder Religion ein zerstörerisches, gefährlich fanatisches Element zugrunde liegt und dass jede Gottheit, von der wir uns abhängig machen, beliebig austauschbar ist? Der Götterschlussverkauf mit 10 Cent pro Götterbild lässt zumindest darauf schließen, ebenfalls ein höchst ironisches Element, das mich neben all der Düsterheit zum Schmunzeln bringt.
Ein wenig heller und freundlicher wird es bei der zweiten Performance auf der großen Bühne. So wie die schrillen und ohrenbetäubenden Urschreie der Tänzer*innen uns Zuschauer*innen haben erschaudern lassen, genauso wohlklingend vereinen acht Performerinnen sich daraufhin in „No Tomorrow“ in einem mehrstimmigen Gesang. Dazu spielen sie Akustikgitarre und wiegen sich verträumt im Takt, drehen Pirouetten und legen sich auf den Boden. Voller Körpereinsatz zu ein paar simplen Akkorden. Die Verherrlichung gewöhnlicher Klänge als Huldigungsreigen vor dem Gott namens Pop(musik). Auch hier keine freudetaumelnde Zeremonie, aber das Licht ist warm, die Klänge harmonisch, man kann dem Geschehen entspannt zusehen.
Nach einer weiteren Pause, in der Moderator Fridgeir Einarsson empfiehlt, sich für den letzten Akt des Abends zu wappnen, können noch Götterbilder oder Getränke an der Bar erstanden werden. Es folgt der 80-minütige Film „Union of the North“ des amerikanischen Künstlers Matthew Barney als abschließender Teil.
Falls es bis zu dieser Vorstellung noch irgendwelche Erwartungen seitens des Publikums gegeben hat, so müssen sie spätestens jetzt über Bord geworfen werden. Dieser Film sprengt alles – sogar den Geduldsfaden mancher Zuschauer*innen, die nach etwa der Hälfte des Films sichtlich übersättigt ob all des Exzesses den Saal verlassen. Auch mich verwirrt, ja sogar verstört teilweise das, was ich sehe. Und das, was ich sehe, kann ohnehin nie das komplette Geschehen sein, denn der Film ist in zwei Bildhälften aufgeteilt, die parallel gezeigt werden. Hinzu kommt, dass Texte in isländischer Sprache gesprochen und mit deutschen Untertiteln versehen sind, sodass es schwierig ist, Text und Bildsprache beider Bildseiten gleichzeitig zu erfassen. Meine Konzentration wird noch einmal voll beansprucht und ich versuche, mir einen Reim aus dem zu machen, was gezeigt wird. Aus einem sarkastisch anmutenden Blickwinkel wird hier die Zeremonie der Eheschließung und alles, was im westlichen Kulturkreis an Ritualen und Zeremonien dazugehört, ad Absurdum geführt: Ein Mann und eine Frau sollen verheiratet werden, und zwar in einem Shopping-Center. Als Götter dargestellt und von ihren Diener*innen auch so behandelt, werden sie für die große Feier vorbereitet. Diese Vorbereitungen werden bereits in Form von neu kreierten rituellen Handlungen und Zeremonien inszeniert. Mit völlig übertriebenen Maßnahmen wird das zukünftige Brautpaar für ihre Vermählung herausgeputzt und fit gemacht – durch isotonische Getränke, Eiweißshakes, kurzfristige Maßnahmen zur Optimierung und Verzierung der Körper – mit allen möglichen Hilfsmitteln, die sich in den verschiedenen Abteilungen eines Kaufhauses finden lassen. Die fleißigen Helfer*innen flitzen hin und her, schleppen die verschiedensten Dinge und Gerätschaften heran. Nur das Beste für ihre göttlichen Stars, versteht sich. Bis auch sie sich ganz diesem Ritual hingeben und sich in verschiedene Stadien der Trance versetzen.
Beim Junggesellenabschied tanzt der zukünftige Bräutigam alias Gott im wahrsten Sinne des Wortes auf Messers Schneide, während sich die Brautjungfern seiner Zukünftigen lasziv und exzessiv im Pulver eines Eiweiß-Shakes wälzen. Dazu wieder die inbrünstigen Schreie, die mich bereits in der „Shrine“- Performance so fesselten. Sie schreien so lange und so laut, bis sie erschöpft auf dem bestäubten Boden zusammensacken.
Der Film gipfelt in einem großen Finale: Für die Götterheirat kommen alle Protagonisten zusammen. Die beiden Erzählstränge des Films, die sich in den beiden Bildhälften spiegelten, werden zusammengeführt. Vor einem Dunkin‘ Donuts- Stand inmitten des Einkaufszentrums wird die Eheschließung von einer fülligen, Hochzeitsgelöbnisse singenden Frau im Kittelkleid abgehalten und das Brautpaar unter die Haube in Form einer riesigen aufblasbaren Kuppel mit Dunkin‘ Donuts-Aufschrift gebracht. Das Ganze endet in einem heillosen Durcheinander, das sich in allzu langen filmischen Sequenzen bis zur allgemeinen Ekstase aufbauscht und das Werk seine Vollendung findet.
Was an diesem Abend neben all den spektakulären, skurrilen und sakralen Inhalten zu kurz kam, war der Tanz an sich. Dafür gab es eine geballte Ladung Gesellschaftskritik, das Aufzeigen der Möglichkeit einer gänzlich andersartigen Weltanschauung und religiösen Haltung. Ob diese nun erstrebenswert und ernstgemeint ist, sei dahingestellt, doch eins ist sicher: Dem Entertainment-Gott huldigt die Iceland Dance Company mit „Sacrifice“ in jedem Fall.
„SACRIFICE“ – Eine exzessive Poesie der Aufopferung“ von Bastian Schramm
Vom 8. bis zum 10. September ist die Iceland Dance Company unter Leitung der Choreografin Erna Ómarsdóttir im tanzhaus nrw zu Gast. Dabei kommt nicht einfach nur ein abgeschlossenes Stück zur Aufführung, sondern vielmehr wird das ganze Tanzhaus NRW mit Beiträgen der Künstler*innen Matthew Barney, Valdimar Jóhannsson, Gabríela Friðriksdóttir, Ragnar Kjartansson und Margrét Bjarnadóttir in Beschlag genommen. Das dabei entstandene Festival mit dem Titel „SACRIFICE – a festival of common things made holy“ lässt sich in fünf Teile gliedern. Den Rahmen für den Festivalabend liefert ein Programm auf der großen Bühne, das sich aus zwei Performances und einem Filmscreening zusammensetzt. Während der Pausen findet im Foyer ein Basar statt, auf dem verschiedene obskure Objekte und Dienstleistungen (‚Hate-Yoga‘-Seminar, eine Kiste in der man sich zum Schreien einschließen kann) dargeboten werden und auf der kleinen Bühne läuft ein Video-Loop von der Künstlerin Gabríela Friðriksdóttir.
Ich muss zu Beginn dieser Besprechung zunächst meine eigene Perspektive auf das Gesehene verorten, denn im Januar 2017 war ich selber für einige Tage auf Island und hatte die Möglichkeit, einen eigenen Eindruck von der eigenartigen Landschaft dieser Insel und den darauf lebenden Menschen zu bekommen. Dies wäre nicht von besonderer Wichtigkeit, wenn die Performances an diesem Abend mir nicht ständig Assoziationen zu meinen eigenen Erfahrungen aufgedrängt hätten. Die erste Performance mit dem Titel „SHRINE“ beginnt mit einem monumentalen Bühnenbild, in dessen Zentrum zunächst eine riesige aufblasbare Kuppel mit ‚Dunkin‘ Donuts-Aufdruck steht. Auch wenn die Kuppel schon nach wenigen Momenten wieder verschwindet, wird mit einer aufwändigen Lichtinszenierung ein sakral wirkender Raum gestaltet. Die Performance arbeitet sehr stark mit der Körperlichkeit der Performer*innen, auf die zur gleichen Zeit keinerlei sorgende Rücksicht genommen wird, denn jede Bewegung scheint darauf bedacht, den Körper an seine Grenzen zu bringen. In schwarzen Schläuchen, die wie extraterrestrischer Seetang wirken und auf der Bühne durch ihre zuckende Beweglichkeit fast selbst wirken wie an der Performance beteiligte Lebewesen, nehmen die Performer*innen ein Bad und führen dabei Gesten auf, die an entgrenzende Trance-Tänze und indigene Gottesanbetungsrituale erinnern. Sie verschmelzen stellenweise zu einer sich bewegenden, stöhnenden Masse, die an anderen Stellen wieder unter großen Schmerzen auseinander zu treten scheint. Man wartet angespannt auf einen Moment der Erlösung, darauf dass die Gewaltigkeit der Performance abschlafft, doch dieses Harren ist lange vergeblich. Gerade hier drängten sich mir Assoziationen zur Gewalt und Gleichgültigkeit der Natur auf, die ich auf Island am eigenen Leibe erfahren konnte. Schönheit und tödliche Gefahr gehen hier immer Hand in Hand und man wird sich der eigenen Begrenztheit als Mensch jederzeit bewusst. Ein falscher Tritt und man wird von Geröll zerdrückt, in einem Geysir atomisiert oder von den hysterisch kreischenden Winden an den unwirklich schönen schwarzen Stränden aufs Meer herausgetragen. Während man beim Sonnenaufgang noch das Gefühl hat, man sei am friedlichsten Ort der Welt, kann einem schon kurze Zeit später von aufgewirbeltem Vulkangestein die Brille von der Nase geschlagen werden. Ganz ähnlich arbeitet die Ästhetik der Performance; die atemberaubende Schönheit der exzessiven Körperlichkeit existiert parallel mit einem Gefühl von Verderben und drohendem Untergang. Gebrochen wird dies in der Performance durch den plötzlichen ironischen Kommentar von Ragnar Kjartansson, der zu aus dem Off eingespielter Muzak wissenschaftlich genau erklärt, wie der Tod eines Menschen sich aus medizinischer Sicht beschreiben lässt, welche unterschiedlichen Phasen dabei zu differenzieren sind und was genau nach jeder Phase von der körperlichen Integrität der verstorbenen Person übrig bleibt. Dieser offene und interessierte Umgang mit dem Thema Tod ist ein Motiv, das sich durch den ganzen Abend zieht und – das ist meine persönliche Einschätzung – in dieser Form des Umgangs in der isländischen Kultur viel alltäglicher ist als an Orten, an denen der Tod weniger gegenwärtig ist und sich abstrakter darstellt. So beschäftigt sich der in der Pause zu besichtigende Video-Loop mit dem Titel „Dies Irae“ mit dem gleichnamigen Hymnus des mittelalterlichen Franziskaners Thomas von Celano – einem Text, der das Jüngste Gericht behandelt – und führt dabei in einer nihilistischen Ästhetik, die an mittelalterliche Beschäftigungen mit der Pest erinnert, Szenen auf, die von Vergänglichkeit und Wiederauferstehung zu handeln scheinen. Diese Motivik eines Kreislaufs des Lebens ist dabei im ganzen Verlauf des Abends sehr wichtig und ist vielleicht auch die Erklärung für den unbefangenen Umgang mit dem Tod: nämlich als fester Glaube an einen größeren Lebenszusammenhang, in dem einzelne vergängliche Körper als rekonfigurierbares Material auch nach dem Ende des Lebens im menschlichen Sinne weiterexistieren. SACRIFICE fokussiert dabei nicht das Opfer als singulär stattfindendes und auf einen streng abgegrenzten sakralen Kontext sich beschränkendes Ereignis, im Zuge dessen ein abgrenzbarer materieller Körper (menschlich oder nicht-menschlich) zu seiner Heiligung dem Leben entrissen wird und einer Gemeinde die Kontaktaufnahme mit einer metaphysischen Entität erlaubt. Vielmehr wird das Opfer im Kontext einer Konzeption von Leben, die einzelne Körper und ihre Abgeschlossenheit gegenüber einem größeren Lebenszusammenhang vernachlässigt, profanisiert und als sich konstant vollziehender Prozess, der im Fluss des Lebens ständig sich ereignet, verstanden. Zur gleichen Zeit stehen dann ganz subjektive Aspekte der Aufopferung wie Schmerz, Gewalt und Zerrissenheit im Vordergrund und werden damit problematisiert. Es wird klar, dass die Performance keine einfache Antwort auf die Fragen liefern will, die sie aufwirft, sie wählt vielmehr den Weg der Ästhetisierung, um die Widersprüche zu verhandeln. Die zweite Performance scheint sich eben diesem unangenehmen Zusammenhang von der Vergänglichkeit allen Lebens und der damit verbundenen Entsubjektivierung ganz entziehen zu wollen und setzt auf eine infantile An-ästhetik des Stillstands. Die acht Performer*innen stehen mit hochgekrempelten Jeans, weißen T-Shirts und Westerngitarre – und damit in der über alle Zeiten verständlichen Uniform des melancholisch-weltschmerzigen Teenagers – auf der Bühne und singen, neben einer durch und durch naiv anmutenden Gitarrenperformance in Anlehnung an Jugendbewegungen wie Punk, von der nicht vorhandenen Zukunft und damit von einer Zeit im Leben, in der jede Vergänglichkeit gegenüber der Intensität des Augenblicks in weiter Ferne erscheint. Doch schon im dritten Teil des Abends ist Schluss mit dem von außen allzu lieblich wirkenden jugendlichen Egozentrismus. Matthew Barney – der, nebenbei bemerkt, der Exfreund von Björk ist – kommt mit seinem Film „UNION OF THE NORTH“ zu der krassen Ästhetik zurück, die schon die Eingangsperformance prägte und lässt es dabei nicht aus, eine Menge des vorgegebenen visuellen Materials weiterzuverwenden. Dunkin‘ Donuts und auch die Gummischläuche aus der Anfangsperformance tauchen wieder auf, jetzt jedoch in etwas alltäglicherer Gestalt als ganz konkreter Donut-Stand in einem Einkaufszentrum und als etwas lächerlich anmutendes Sportgerät. Was zunächst noch wie ein etwas unheimlicher Besuch in einem nächtlich leeren Einkaufszentrum wirkt, steigert sich schnell in immer exzessivere Höhen, wobei Rituale aus dem Kontext der sportlerischen Selbstausbeutung mit religiös anmutenden Opferritualen verschmelzen und zu einer ekelerregenden und angsteinflößenden filmischen Gesamtperformance verschmolzen werden, die sich im Extrabreitbild einer Split-Screen-Montage darbietet und ähnlich zwischen Schönheit und Verderben schwankt, wie die Eingangsperformance. Die Realität des Einkaufszentrums wird hier auf brutale Weise pervertiert und die dem Kontext des Sporttrainings entnommenen Rituale gewaltsam überzeichnet. Mit Hilfe von Trichtern werden bis zum Erbrechen Proteinshakes in die Körper von Sport-Treibenden gezwängt, Männer verteilen Blöcke von Frittierfett auf ihren Körpern, um anschließend matt glänzend miteinander zu ringen, es werden Messer geschwungen und eine kunstblutschwangere Massage durchgeführt, deren bloße Ansicht das Publikum mit aufeinander gebissenen Zähnen und in bizarr verspannter Sitzhaltung zurücklässt. Die gesamte Performance gipfelt in einer Art symbolischen Liebesakt im Dunkin‘-Donuts- Pavillion vom Beginn des Performanceabends und sorgt damit für den freudig erwarteten Gesamt-Zirkelschluss, der das Ende eines Abends beschließt, der einen, ob der Drastik der Bilder, verschwitzt und erschöpft zurücklässt und damit die von Ragnar Kjartansson zu Beginn aufgestellte Parallele zu einem Marathon nicht ganz falsch erscheinen lässt. Was von diesem Abend zurückbleibt, lässt sich schwer in Worte fassen, da die Extremität des Gezeigten von der Zuschauer*innenseite nicht selten mit Abwehr quittiert wird und somit zu einer ungewollten Hermetik des Stückes führt. Der Zusammenhang von Leben, Gewalt, Aufopferung und Auferstehung wird auf extrem anspruchsvolle – nicht immer im positiven Sinne – Weise inszeniert und erfordert gewissermaßen schon durch die epische Länge von 4 Stunden eine gewisse Aufopferungsbereitschaft des Publikums. Das mag nicht jedermanns Geschmack sein, kann aber – schon allein aufgrund der hohen ästhetischen Integrität des vorgeschlagenen Festivalzusammenhangs –, wenn man sich darauf einlässt, durchaus Genuss verheißen.