Über die Konferenz „INVENTUR 2“

Wann: 01.06. – 03.06.
Wo: tanzhaus nrw

INVENTUR 2 – ein Resümee von Pia Bendfeld

Inventur – das bedeutet, den aktuellen Stand überprüfen. Was ist vorhanden, was fehlt? Zwölf Jahre nach der ersten Inventur in Wien reflektiert die internationale Tanz- und Performanceszene erneut über ihre gegenwärtige Situation – dieses Mal in Düsseldorf – und diskutiert die neuen Herausforderungen, welche sich durch die weltweiten gesellschaftspolitischen Entwicklungen ergeben.

Im Jahr 2005 fand das Format der Inventur zum ersten Mal statt. Damals war die Konferenz geprägt von Euphorie über die Neuformation Europas durch die Ostblockstaaten und man zelebrierte den Tanz. Mittlerweile ist dieser Enthusiasmus angesichts der gegenwärtigen Lage von einer sachlichen Ernsthaftigkeit beschattet. Die drei Tage im Tanzhaus NRW gleichen einer Krisensitzung der kreativen Akteure, zu denen namhafte Choreografen, Tänzer und Kunsttheoretiker zählen, die ihre Position angesichts der aktuellen globalen Ereignisse beurteilen und beraten müssen. Neun Panels mit hochkarätigen Gastrednern schildern die konkreten Probleme von Neoliberalismus, Rassismus und Postkolonialismus, um diese im Plenum zu verhandeln. Ziel dieser Analyse ist die Frage nach konstruktiven Handlungsmöglichkeiten. Wie können Ideen innovativ umgesetzt und bestehende, unzeitgemäße Muster überwunden werden, um auf die beunruhigende globale Situation zu reagieren?

Es gilt die bestehenden Grenzen zu überwinden – die Geografischen sowie die im Kopf Verankerten. Trotz einer globalisierten, postkolonialisierten Welt und dem damit einhergehenden Näherrücken und Überlappungen kultureller Identitäten dauert das stereotypisierte Denken fort. Die verstärkte Identifikation mit der eigenen Nation führt zu einem Aufmarsch der rechten Bewegung in der westlichen Gesellschaft. Dieses Paradoxon erleben Tänzer afrikanischer Herkunft, wie Nora Chipaumire und Opiyo Okach, regelmäßig auf der Straße und ihrem Arbeitsalltag. Im ersten Panel der Konferenz berichten die beiden Künstler gemeinsam mit dem südafrikanischen Kurator Jay Pather, unterstützt von einem Videobeitrag des Theoretikers Achille Mmembe, von ihren Erfahrungen und den Erwartungen an einen schwarzen, postkolonialisierten Körper. Eine Performance von Opiyo Okach, der wechselnd in Westafrika und Frankreich arbeitet, wurde etwa als „not african enough“ kritisiert, wie Okach berichtet, weil es nicht der klischeebehafteten Vorstellung eines afrikanischen Tanzstücks entspreche. Diese Problematik und die damit verbundene Identitätsfrage ist ein wichtiger Aspekt der Arbeit von Nora Chipaumire. Als aus Simbabwe stammende New Yorkerin beschäftigt sie sich mit dem weiblichen, afrikanischen Körper im Tanz, wie beispielsweise in ihrem Video „Afropromo #1 King Lady“. Die Tänzerin und Choreografin spricht sich nachdrücklich für die Bedeutung der Einflüsse anderer Länder und Kulturen auf den westlichen Tanz aus: „West you’re tired. You need us, the South. Because we have nothing, we can only dream. We have so much imagination.“ Seit dem Tod einflussreicher Pioniere ihrer Zeit wie Trisha Brown, Martha Graham und Pina Bausch sei der westliche Tanz tot, lebe ausschließlich von diesem Erbe und erfinde sich nicht neu. Durch einen realisierten Transkulturalismus könnten zukünftige Produktionen durch die Verschmelzung verschiedener Einflüsse profitieren und sich dem Zeitgeist anpassen. In diesem Kontext wird auf ein Umdenken bezüglich des Publikums hingewiesen. Wie erreicht man die Menschen außerhalb einer elitären, intellektuellen Zielgruppe und führt sie an kulturelle Institutionen und zeitgenössischen Tanz heran? Nora Chipaumire setzt sich mit der Jugendkultur und deren Sprache, auch außerhalb der großen Städte, auseinander und appelliert an eine frühzeitige Kulturbildung, um bereits Kinder sensibel für verschiedene Kunstformen zu machen. Zudem fordert sie den freien Zugang zu sämtlichen kulturellen Einrichtungen, um die finanzielle Barriere aufzulösen. Das von Jay Pather initiierte Projekt „Infecting The City“ setzt diese Gedanken, in Form eines öffentlichen Theaterfestivals auf den Straßen Kapstadts, erfolgreich in die Tat um.

Der öffentliche Raum als Fläche für Tanz und Performance tritt zuweilen in den Fokus der Debatte. Während des „Theory“-Panels, unter der Leitung von Susan Leigh Foster, thematisiert der Künstler Janez Janša das problematische Verhältnis von zeitgenössischen Performances in der neoliberalen Gesellschaft. Die Freiheit jederzeit „zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein“ und künstlerisch agieren zu können, verwehre die Möglichkeit der Provokation. Gefordert werden Performances und Aktionen, die durch ihre vermeintliche Deplatzierung im gesellschaftlichen Gefüge grundlegende Strukturen erschüttern und die Systeme zur Reaktion zwingen. Diese Wirksamkeit sei nur außerhalb der Komfortzone möglich. Im anschließenden Gesprächskreis schildert die Choreografin Meg Stuart eine von ihr und einer Gruppe junger Menschen durchgeführte Aktion im Wiener Naturhistorischen Museum, welche von der Institution selbst unterbunden wurde. Daraufhin wurde die Performance an einen öffentlichen Brunnen verlegt und von Passanten als Event fehlinterpretiert. Eine Aktion im offenen Raum, die kein Hindernis bietet, könne nichts bewegen. „Politische Macht ist nicht unantastbar“, betont Janez Janša und motiviert die anwesenden Kunstschaffenden durch Performance und Tanz aktiv zu werden sowie Möglichkeiten zu finden, um Muster zu durchbrechen, damit die Entwicklung des Tanzes nicht auf der Stelle tritt.

Doch ist der Tanz an sich bereits als politischer Akt zu verstehen? „Dance is my form of political activism. It is not how I dance or why I dance. It is that I dance“, heißt es bei der amerikanischen Choreografin und Judson Church-Legende Deborah Hay, die erst vor kurzem in Düsseldorf mit einer Uraufführung zu erleben war. Der öffentliche Exzess demonstriert bereits die Abkehr von gesellschaftlich akzeptierten Normen, was im künstlerischen Rahmen jedoch gestattet ist. Fraglich ist jedoch, ob die bloße Existenz von Performance und Tanz in diesen politisch angespannten Zeiten noch eine Wirkung erzielt. Es geht nicht um eine Legitimation des Tanzes durch seine politische Relevanz, sondern viel mehr um die Handlungsmöglichkeiten, die sich durch ihn bieten. Im Panel zu „Social Practices and the Inherent Politics of Dance“ stehen ebendiese Fragen im Fokus. Politische Entscheidungen können bereits bei der Konzeption einer Choreografie und der Wahl bestimmter Darsteller, Musik und der Thematik getroffen werden. Allerdings besteht auch hier Diskussionsbedarf. Was kann als politisch erachtet werden? Opiyo Okach bemerkt, dass der afrikanische Körper nicht auf das Politische reduziert werden darf. Dennoch ist es wichtig, Randgruppen in Choreografien einzubeziehen. Auch der an Zerebralparese leidende Tänzer und Choreograf Dan Daw hinterfragt die politische Dimension seines Auftretens. Ist die Darstellung durch eine Behinderung eingeschränkter Körper und Körper jenseits allgemein geltender Schönheitsideale auf der Bühne ein politisches Statement? Ein Aspekt, den das Tanzhaus NRW mit der Reihe „Real Bodies“ in der aktuellen Spielzeit in Szene setzte. Das unkonventionelle Format und seine äußere Präsenz auf Werbeplakaten sorgten teils für empörte Reaktionen.

Fremdenfeindlichkeit, Vorurteile und Sexismus sind spätestens seit der Wahl des amerikanischen Präsidenten und der Flüchtlingsproblematik in Europa wieder omnipräsent. Die Philosophin und Performance-Theoretikerin Bojana Kunst stellt fest, dass die Allgemeinheit das Ausmaß des Postkolonialismus, Neoliberalismus und Rassismus noch nicht begriffen habe. Man sei angesichts der globalen Situation betäubt und handlungsunfähig, um auf diese beunruhigenden Entwicklungen angemessen zu reagieren. Sollten sich die darstellenden Künste an politischen Protesten orientieren, um für Offenheit und Toleranz, die das Wesen der Kunst ausmachen, einzustehen? Carolee Scheemann empfahl der jungen Künstlergeneration bereits das Kunstschaffen aufzugeben, um sich als Aktivisten zu engagieren. Durch die geringe Bezahlung von Tänzern seien diese auf private Subventionen angewiesen, was die Realisierung gesellschaftskritischer Produktionen erschwere. Häufig sind die Förderer und Institutionen abgeneigt, radikale Konzepte zu finanzieren, da sie nicht zugänglich für das klassische Abonnentenpublikum seien. Aus Angst vor Einbußen der Verkaufszahlen und schlechter Resonanz gingen etablierte Häuser kaum Risiken ein und führten stattdessen gefällige, ästhetische Stücke auf.

Diese Umstände beeinflussten auch die Kunstschulen und die Tanzausbildung. Der Einfluss privater Gelder bedeute eine Einschränkung für die künstlerische Arbeit außerhalb des geschützten Raums der Akademie, welcher die einzige Möglichkeit für kreative Experimente biete. Eigenständige Projekte und freie künstlerische Entfaltung seien angesichts der erhöhten Studiengebühren kaum umzusetzen. Welchen Anforderungen müssten die Kunstschulen heutzutage gerecht werden, um die neue Generation geistreicher, innovativer Kunstschaffender zu betreuen und auf den Markt vorzubereiten? Dieser Frage widmen sich die Tanztheoretikerin Bojana Cvejić und Susana Tambutti, Professorin für zeitgenössischen Tanz an der Universität von Buenos Aires mit ihren Gästen Sujata Goel und Laurence Rassel. Sie sind der Auffassung, dass man die Studierenden bei der selbstständigen Organisation unterstützen und Kollaborationen fördern müsse. Der zunehmenden Professionalisierung des Kunststudiums stehe man aber kritisch gegenüber. Die akademische Ausbildung zum spezialisierten Künstler scheine den einzigen Zugang zur Kunstwelt darzustellen. Eine Erfolgsgarantie gebe das Studium, selbst auf renommierten Hochschulen, allerdings nicht. Fraglich sei, was man unter Erfolg versteht und auf welchem Markt man agieren möchte. Darauf und über die Strukturen des kreativen Marktes gibt die Konferenz nur bedingt Auskunft. Ist die berufliche Perspektive nach Abschluss der Akademie lediglich Glückssache und ist es nachzuvollziehen, dass manche Studenten noch vor dem Abschluss von Kollektiven angeworben werden, während sich Andere nicht etablieren können und mit dreißig Jahren an ihre Schule zurückkehren, um unabhängig von Institutionen künstlerisch aktiv zu sein?

Grundsätzlich spricht sich die Debatte für eine intensivere Zusammenarbeit und eine Solidargemeinschaft der Kunstschaffenden aus. Auch die gegenseitige Inspiration von bildender Kunst und zeitgenössischem Tanz stelle einen relevanten Aspekt der Inventur 2 dar. Das neue hybride Genre der Dance exhibition etabliert sich derzeit in kulturellen Einrichtungen und international renommierten Häusern. Anne Teresa de Keersmaekers Kompanie Rosas bespielte in Brüssel die Ausstellungsräume des Wiels, Maria Hassabi und ihre Tänzer zeigten die Live-Installation Plastic im New Yorker MoMA, und während der Biennale von Venedig präsentiert die Performancekünstlerin Anne Imhof aktuell ihre Arbeit „Faust“ im Deutschen Pavillon. Es handelt sich allerdings nicht um eine einfache Transformation in ein neues Medium. Institutionen müssen Raum, im räumlichen und metaphorischen Sinne, für die bewegliche Ausstellung schaffen. Häuser wie das Tate Modern in London reagieren auf die interdisziplinäre Ausstellungsform mit der Konstruktion eines spezifischen Bereichs für performative Kunst. Auch das MoMA ist sensibel für die Entwicklung von der statischen zur darstellenden Kunst und installiert in diesem Kontext die neue Position des Producers zur Unterstützung der Kuratoren, die bei der Konzeption von Tanzausstellungen aufgrund der eingeschränkten Fachkenntnisse an ihre Grenzen stößt. Ana Janevski, Kuratorin des MoMA in New York, hält die Kooperation verschiedener Kunstformen sowie die Eingliederung dieser diffusen Genres für eine enorme Bereicherung für die Institutionen und Rezipienten.

Zeitgenössischen Tanz von Theaterbühnen (black box) auf Ausstellungsräume (white cube) zu übertragen, bringe allerdings organisatorische Schwierigkeiten mit sich. Mit dem Standortswechsel wandelten sich auch die Rahmenbedingungen. Die Besucher einer Dance exhibition betrachten die Performance nicht während eines festgelegten Zeitraums, sondern sind während der Öffnungszeiten des Museums flexibel. Die räumliche Distanz von Zuschauerbereich und Bühne wird aufgelöst und die Rezipienten bewegen sich inmitten der Darsteller. Somit werden die Besucher teilweise selbst zu Akteuren. Das Prinzip der Partizipation statt Passivität mache das Konzept der Dance exhibition besonders reizvoll und lebendig. Der museale Raum erlaube Gespräche, Foto- und Videoaufnahmen während der Performance, was in der black box nicht üblich ist. Was für den Betrachter angenehme Freiheit sei, stelle für den Performer einen wesentlichen Störfaktor dar. In Form eines Audiobeitrags, der von einer Instagram-Diashow begleitet wird, formuliert Maria Hassabi ihre Publikumserfahrungen während der Ausstellung „Plastic“ im MoMA. Sie und ihre Darsteller wurden teilweise wie Objekte behandelt, erzählt sie, die respektlos kommentiert und fotografiert werden konnten. Die Künstlerin kritisiert die exzessive Dokumentation durch Bildaufnahmen im Ausstellungsraum sowie die hohe Reproduktion ihrer Arbeit auf sozialen Netzwerken, da diese nicht repräsentativ ist. Die Kunsthistorikerin und Autorin Claire Bishop hingegen möchte die technische Entwicklung und Mediatisierung nicht moralisieren, sondern stellt diese als neue Faktoren fest, welche die Kunstwelt seit der letzten Inventur zunehmend beeinflussen. Dennoch flache unsere Rezeption durch einen „second screen“ das Erlebnis und die Erfahrung der Ausstellung ab und könne diese nicht vollständig erfassen. Maria Hassabi favorisiert ein Publikum, welches sich auf die Performance mental und zeitlich einlässt, um den künstlerischen Anspruch wertschätzen und verstehen zu können. Dies sollte die Künstler allerdings nicht veranlassen, ihre Arbeiten kommerzieller und zugänglicher zu gestalten. Janez Janša betont, dass nicht nur Künstler und Institutionen, sondern insbesondere der Betrachter Initiative zeigen müsse, um die Kunst erfahrbar zu machen.

Das Genre der Dance exhibition fordere die Museen und Ausstellungshäuser heraus und destabilisiere die festen Strukturen durch ungewohnte technische, räumliche und zeitliche Anforderungen. Die Entwicklung finde weniger in der Kunst, als in den Institutionen statt, die durch die Auflösung der Statik allmählich dynamischer werden und ihre Handlungsmöglichkeiten ausweiteten. Das Aufheben gültiger Sicherheitsbedingungen, wie beispielsweise das Ausschalten des Lichts im Ausstellungsraum, zwinge kulturelle Einrichtungen zur Entfernung von der Routine. Claire Bishop regt an, den Ausstellungsraum für Aktivisten zu öffnen, um Institutionen mit noch kontroverseren Formaten zu bespielen. Nur durch die Abkehr von der Norm könne etwas Innovatives und Wirkungsvolles entstehen.

POSTCOLONIALISM/GLOBALISM/CRISIS/POLITICS/EMPOWERMENT – Die diesjährige Inventur unter der Leitung von Gabriele Brandstetter, Sigrid Gareis, Martina Hochmuth und Bettina Masuch hat mit eindringlichen Schlagwörtern die fundamentalen Problematiken dieser Zeit in ihrem Programm fixiert. Dementsprechend hoch waren die Erwartungen der Teilnehmer. Antworten auf die drängende Frage nach expliziten Handlungsmöglichkeiten liefert die Konferenz rückblickend allerdings nicht. Vielmehr bietet sie im interdisziplinären Austausch Anregungen für zukünftige Projekte und motiviert zu provokativen und mutigen Aktionen außerhalb der gewohnten Wirkungsstätten. Die internationalen Gäste in Düsseldorf scheinen sich trotz kritischer Analysen und Diskussionen in einem Punkt einig zu sein: Man muss als künstlerische Gemeinschaft kollektiv aktiv werden und bestehende gesellschaftliche und institutionelle Strukturen überdenken und aufbrechen. Konkrete Pläne für die Umsetzung wurden nicht formuliert. Wie ertragreich und effektiv die Gespräche letztendlich verliefen, lässt sich zu diesem Moment noch nicht beurteilen. Dementsprechend werden die Tanz- und Performanceproduktionen der folgenden Jahre über die Nachwirkungen und das Resultat der intensiven und inspirierenden Inventur 2 Aufschluss geben.

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