Über die Uraufführung „Tenacity of Space“ des DANCE ON ENSEMBLE/Deborah Hay

Wann: 24.03. – 26.03.
Wo: tanzhaus nrw // Uraufführung

#1 Das Zulassen der unbestimmten Zeit von Katharina Tiemann
#2 Metamorphosen räumlicher Distanz von Bastian Schramm

Das Zulassen der unbestimmten Zeit von Katharina Tiemann

„Tenacity of Space“ ist zu Ende und ich sitze wie gefesselt auf meinem Stuhl. Das Stück erscheint mir schlicht, still und unkompliziert – trotzdem weiß ich nicht, wie und was ich denken soll. Ich bin berauscht, entspannt und zufrieden, aber kann nicht verstehen, was passiert ist. „Tenacity of Space“ ist eine Performance, die zugleich ereignislos und aufwühlend, bewegungsreich und still ist, Gemeinschaft thematisiert und zugleich Vereinzelung. Das Stück stellt diese Kontraste heraus, entwickelt sie und löst alles dann wieder auf, bis aus den Stücken ein Ganzes entsteht. Dieses Ganze kann man aber nur verstehen, wenn man dem Tanz seine eigene Sprache anerkennt: Die fünf Tänzer/innen des DANCE ON ENSEMBLE sprechen vor allem mit den Gliedmaßen ihres Körpers und öffnen damit eigene Perspektiven, die keine Wörter benötigen.
Eine der Tänzer/innen zieht ihr Bein hoch an ihren Körper und lässt es auf den Boden fallen, so dass ein Knall entsteht. Ein Händeklatschen verstärkt die Lautstärke des Knalls. Dies wiederholt sich einige Male in langen und unregelmäßigen Abständen. Zwischen den etlichen Wiederholungen scheint die Zeit stillzustehen. Die Minuten dehnen sich aus und langsam macht sich Nervosität im Raum breit. Einige Zuschauer husten, manche rutschen auf ihren Stühlen herum und wieder andere flüstern ihren Sitznachbarn etwas zu. Ebenso langsam wie sich die klatschende Tänzerin voran bewegt, rückt eine weitere hinter der schwarzen Stellwand hervor. Die Glieder der Tänzerin bilden eine abgeschlossene geometrische Form. Ihre Haltung ist starr, ihre Arme sind angewinkelt, die Fingerspitzen berühren ihre Hüften. Sie wirkt nicht abwehrend, aber auch nicht offen oder zugänglich – demonstriert Vollkommenheit. Ihr Körper drückt aus, dass er nicht auf einen weiteren Körper bzw. eine andere Person angewiesen ist. Trotz der Abwehrhaltung nähert sich die klatschende Tänzerin der Verschlossenen an. Nach einiger Zeit löst sich die Starrheit und beide wenden sich einander zu. Schließlich löst sich dieser Abschnitt der Performance auf, indem eine sachte Berührung ausgetauscht wird.
Die Künstlerin und Choreografin Deborah Hay lässt hier das Pendel zwischen dem Ganzen und dem Individuellen hin- und herschwingen, indem sie beide Teile stetig stattfinden lässt. Will sie uns damit sagen: Wir können alleine leben, handeln und uns bewegen, sind aber niemals ohne die Anderen. Das Stück erzählt in Bewegungen und wechselnden Raumkonstellationen Geschichten über den Einzelnen und die Bedeutung von Gemeinschaft. Jedem Tänzer ist ein Bewegungsmuster und damit eine Persönlichkeit eigen. Der Eine geht im Tanz oft in die Hocke, die Andere lässt immer wieder ihren Oberkörper fallen, eine andere hebt das gestreckte Bein. Diese sich wiederholenden Versuchsanordnungen – so wirkt es manchmal: wie ein Versuch – spiegeln wie Eigenschaften der Tänzerpersönlichkeit, ihre Interessen und Abneigungen.
Diese Inszenierung passt wunderbar in die Reihe „Real Bodies“ des tanzhaus nrw, die einen thematischen Rahmen für Stücke fasst, die einen Bezug zu Körpern abseits von gängigen Schönheitsidealen, einem gesellschaftlich erzeugten Anspruch an Perfektion oder Altersgrenzen formulieren. Das DANCE ON ENSEMBLE legt Wert darauf, die Bedeutungen erfahrener Tänzer zu betonen und die Ansicht infrage zu stellen, Tänzer müssten mit einem gewissen Alter aufhören, sich künstlerisch zu betätigen. Deborah Hay verarbeitet die Bedeutungen von Erfahrung, Alter und Reife in einem zarten Ton und ohne moralischen Zeigefinger. Es gibt keine Musik, keinen eindeutigen Handlungsverlauf und kein abruptes Ende. Das Einzige, was in den teils langatmig geratenen Einzelsequenzen der Performance stattfindet, sind feine Entwicklungen. Indem die Zuschauer auf die Probe gestellt werden und dem Warten auf ein Ereignis regelrecht ausgesetzt sind, das letztlich nicht einsetzt, nimmt Deborah Hay die Zuschauer sanft mit. Diese Entdeckung der Schönheit des Wartens ist, was mich über die Vorstellung hinaus begleitet und dessen Bedeutungen mich lange beschäftigt hat. „Tenacity of Space“ ist eine Herausforderung für ein Zulassen des Nicht-Verstehens auf unbestimmte Zeit.

Metamorphosen räumlicher Distanz von Bastian Schramm

Deborah Hay, geboren 1941, zählt inzwischen seit über 50 Jahren zu den Vorreiterinnen des im weiteren Sinne zeitgenössischen Tanzes. Sie hat in der Kompanie von Merce Cunningham getanzt, gehört zu den Gründungsmitgliedern des Judson Dance Theatre und ist bekannt für ihre experimentellen Arbeiten, die oft interdisziplinär und reflexiv angelegt sind.
Diese Stichworte treffen auch auf die Choreografie zu, die unter dem Namen „Tenacity of Space“ im tanzhaus nrw zu sehen war. Wie der Name des Stückes bereits suggeriert, behandelt die Choreografie den Raum nicht bloß als eine passive und unbewegliche Unterlage, sondern betont viel mehr seinen dispositivischen Charakter – also den Raum als die Voraussetzung für das, was sich in ihm ereignet. Bestimmte Medien – hier im weiten und wörtlichen Sinne gemeint, also als ein Mittel, in dem sich etwas vermittelt oder ereignet – erzeugen bestimmte Rauschphänomene, so wie die Schallplatte in der Leerrille beharrlich ihre Präsenz durch Knistern und Knacken ins Ohr der Zuhörenden einschreibt, wird in „Tenacity of Space“ der Raum zum Klingen gebracht. Dies geschieht unter anderem durch den Einsatz von Mikrofonen, mit deren Hilfe Echos der Geräusche erklingen, die auf der Bühne und im Zuschauerraum entstehen. Dabei wird deutlich, warum solche künstlich erzeugten Echos in der Tontechnik auch als „Room Emulation“ bezeichnet werden: Der Raum bekommt eine fast unendliche Tiefe, die durch das minimale und dunkel gehaltene Bühnenbild noch verstärkt wird. Von Zeit zu Zeit erfüllt hermetisch und sinnfrei wirkender Gesang der Darsteller den Raum mit allumfassender Präsenz, spätestens an dieser Stelle ist man als Zuschauer mit in diesem Medium, das so beharrlich ist. Und man bleibt sich der Präsenz des Raumes permanent bewusst, auch wenn die Scheinwerfer zwischendurch ausgehen oder das Bühnenbild sich auf fast unmerkliche Weise verschiebt. In diesem Raum wirken die Tänzer verloren und eingeschüchtert, ihre Bewegungen beschränken sich bis auf wenige Ausnahmen auf minimale Gesten, fast subliminal wirkende Auslenkungen. In der Selbstbeschreibung ihres Stückes spricht Deborah Hay davon, dass es ihr nicht um das individuelle Vermögen der Tänzer angekoppelt an ihren Körper als Technik, geht, sondern um „die schonungslose Wahrnehmung von allem in ihrem Blickfeld, was ihre bewegten Körper unterstützen kann“. Das Stück wird damit zu einer spezifischen Erforschung des Verhältnisses von Körper und Raum. Dabei verbleibt der Gestus jedoch nicht bei „technical terms“, sondern nimmt sich die Freiheiten, die der Tanz als Erkenntnismedium bietet. Das Stück ist trotz seiner Subtilität, aus der dem Affektiven-in-Beziehung-stehen mit der persönlichen Situation der Tänzer zeitweise zum Lachen komisch, andererseits wird man sich der affektmobilisierenden Dimension der Ko-Präsenz mit anderen Menschen bewusst, wenn einige der Darsteller beginnen, auf der Bühne zu weinen und von ihren Mitdarstellern durch Annährungsversuche getröstet werden. Auch als Zuschauer ist man dann unter Auflösung der „vierten Wand“ ganz nah und im Geschehen. Deborah Hay beweist damit, wie Tanz als Erkenntnismedium fruchtbar gemacht werden kann. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse weisen in Richtung eines tiefen „entanglement“ – einer Solidarität der Seienden, einer Verbindung, die sich aus der unmittelbaren Unausweichlichkeit des Daseins ergibt und zur Sorge um sich und Fürsorge für andere führt.
Diese Nutzbarmachung, die oft unter dem Begriff des „artistic research“ – der künstlerischen Forschung firmiert, wird als Paradigma vielen aktuellen künstlerischen Positionen und im Besonderen auch im zeitgenössischen Tanz voran gestellt. Der Prozess der Entstehung von Wissen soll für Methoden und Praxen geöffnet werden, die nicht zum klassischen operativen Besteck wissenschaftlicher Diskurse zählen. Für die Kunst und den Tanz bedeutet das zunächst einmal eine Emanzipation von dem, was als die bürgerliche Fetischisierung des Kunstwerkes bezeichnet wurde. Ein Fetisch kann nicht für sich selbst sprechen und wird in eine ausbeutende Passivität gedrängt. Wird der Kunst nun die Fähigkeit zur Produktion von Wissen zugestanden, löst sie sich aus ihrer Position als Produktionsmaschinerie für ästhetisch-kontemplatives Schmuckwerk. Die Kunst erhält damit auch eine spezifische Teleologie in Bezug auf die gesellschaftliche Wissensordnung und eine diesbezügliche Verantwortung. Diese Entwicklung ist im Grunde als ein Aufbegehren des zuvor Unterdrückten, Sprachlosen und jenseits der Diskursgrenzen stehenden zu begreifen und steht damit in enger Verbindung und Verknüpfung mit anderen, dekonstruierend vorgehenden Bewegungen dieser Zeit. Dass diese dekonstruktiven Tendenzen die sich auf bestimmte Essentialismen und verknöcherte Gesellschaftsordnungen beziehen, als positiv und wünschenswert bewertet werden können, ist klar. Doch birgt diese neue Ausrichtung künstlerischer Produktivität auch die Gefahr, die teleologische Ausrichtung auf ein spezifisches Erkenntnisinteresse zu hoch einzuschätzen und dabei Kunst bloß noch als Mittel für bestimmte Zwecke zu verstehen. Wenn dies passiert, gleicht sich die Kunst den Wissenspraxen an, die sie zuvor kritisiert hat und verliert dadurch ihren spezifischen Mehrwert.
Worin dieser Mehrwert liegt, den künstlerische Forschung nutzbar machen kann, kann am Beispiel des Stückes von Deborah Hay nachvollzogen werden. Es ist die Möglichkeit, ohne zuvor einen bestimmten Rahmen fest abzustecken, frei mit bestimmten Themen zu arbeiten und sich dabei von strukturellen, aber auch ästhetischen Vorannahmen und im Prozess entstandenen Feststellungen leiten zu lassen. In diesem Sinne wird das das spezifisch Poetische als Schaffenspotential entfesselt und produktiv. Dies eröffnet die Chance eines unvermittelten Arbeitens mit Materialitäten und die Möglichkeit, solche materiellen Fragmente aneinander zu reihen und damit ein kraftvolles Momentum aufzubauen, ohne die Fragmente vorher nahtlos vernetzen oder gar in ein bereits vorgefundenes (wissenschaftliches) Schema einstricken zu müssen. Kunst und Tanz müssen keine Erklärungen oder feste Wissenssätze liefern, sie müssen nicht metaphysische Erkenntnisinstanzen werden, die die Phänomene aus der Distanz betrachten. Die Künste sollten es – wie in diesem Stück – viel öfter als ihre Stärke begreifen, dass sie sich in der Welt ereignen und sich an ihrem prozessualen Werden beteiligen und sich so aktiv in der Metamorphose der Phänomene einbinden. Ein Beitrag zu den wichtigen Diskursen unserer Zeit entsteht dabei dann ganz von selbst.

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