Wann: 02.06. (Uraufführung) + 03.06. + 04.06.
Wo: tanzhaus nrw
Tänzer als Wellental in der Bewegungsflut von Bastian Schramm
Freitagabend im Tanzhaus NRW, eine verhaltene Schlange von Besuchern steht vor dem Ticketschalter und wartet auf ihre Karten. Einige haben sich schon im Foyer vor der großen Bühne verteilt, unterhalten sich, warten, beobachten. Eine kleine Frau mit Dauer¬welle und Putzkittel wischt den Holzboden. Alles scheint eigentlich so wie immer. Bis man – wahrscheinlich selber im Gespräch – nochmal mit den Augen an der putzenden Frau hängen bleibt. Irgendwas stimmt damit nicht, normalerweise wird hier vor oder nach den Veranstaltungen geputzt, nicht quasi währenddessen. Diese subtile und gerade unter der Schwelle der Bedeutsamkeit mäandernde Geste wird bald durch einen weiteren Akteur ergänzt. Er legt viele bedruckte Papierseiten auf dem Boden aus: Anscheinend der Papierkrieg der dem heutigen Stück vorhergegangen ist. Beschämt werden einige Blätter von bisher Unbeteiligten umgedreht – Mitarbeiter wahrscheinlich. Dann die Glocke, die Vorstellung beginnt. Etwas irritiert, aber durch die Normalität dieses Vorgangs beruhigt, bewegt sich das Publikum in Richtung großer Bühne – um gleich der nächsten Irritation ausgesetzt zu werden.
Die Bühne ist heute nicht existent. Prinzipiell keine große Sache, moderne Tanzformen und speziell Sebastian Matthias experimentieren gerne mit Bühnensituationen, die sich selbst unsichtbar machen. Das Stück findet in einem großen Raum statt, der mit Leuchtstoffröhren, Megaphonen und sonderbar technisch wirkenden Apparaturen ausstaffiert ist. Knackende Laute und Geräuschfetzen erfüllen das, was normalerweise die Bühne im großen Saal ist, der heute in seiner Aura zwischen großtechnischem Chemieforschungslabor und unbelebter U-Bahn-Station schwankt. Der Atmosphäre stiftende Soundtrack zu dieser Situation stammt von Atsuhiro Ito, dessen „NEU!“-T-Shirt den sich im Verlaufe der Performance verstärkenden Krautrock-Einfluss schon von vornherein versprochen hat. Er spielt zu Beginn der Vorstellung mit einem selbstgebauten Instrument, das zum größten Teil aus einer flackernden Leuchtstoffröhre zu bestehen scheint. Dieses Neonlicht – das schon Kraftwerk besangen und damit eigentlich die vitale Metropole meinten – sorgt in Zusammenhang mit der Musik für die ästhetische Rahmung des Stückes. Der Raum wirkt in seiner Kargheit urban und dies spiegelt sich auch in den Bewegungen der Tänzer wider, die sich inzwischen aus der umherwandernden Zuschauermenge durch die scheinbare Signifikanz ihrer Bewegungen herausgeschält haben. Mit ihren langsamen Bewegungen machen sie einen Raumanspruch geltend und binden gleichzeitig die Aufmerksamkeit der Zuschauer. Es bilden sich Menschentrauben, die dann durch die immer ausgreifenderen und schnelleren Bewegungen der Tanzenden zerschnitten werden. Dazu kommen noch die zuvor beschriebenen Apparaturen, die sich wie von Zauberhand immer wieder unvermittelt in Bewegung setzen und das sich umher bewegende Publikum durchpflügen. Was hier passiert, erinnert an große öffentliche Plätze, an Bahnhofshallen und Flughäfen: viele Menschen treffen aufeinander, ihre Bewegungsrichtungen treffen sich, heben sich teilweise auf, verstärken sich. Gleichzeitig werden die Bewegungen in das Korsett einer architektonischen Situation gepresst. Dazu kommen kleine (unvermeidbare) Berührungen und dann später im Stück auch Augenblicke von Interaktion, wie ein Zeigen von Bewegungen oder sich gegenseitig etwas zurufen. Immer wieder steigert sich das Stück dabei in ekstatische Gefühlsäußerungen.
Reflektiert man die Bewegungen, die hier zwischen Tänzern und vermeintlichen Zuschauern entstehen, nimmt sich das Stück wie eine Visualisierung Vilém Flussers Paradigma der Stadt als Netzwerk von Bewegungsvektoren aus, das menschliche Identitäten auf Knotenpunkte, auf Wellentäler in der Flut von Information, reduziert. Durch ihre Bewegung gegeneinander und untereinander sind die (menschlichen und nicht-menschlichen) Aktanten urbaner Umgebungen gemäß Flussers Auffassung untereinander verbunden und voneinander abhängig, sie bilden ein großes Netzwerk, das mit anderen Netzwerken überlagert und verfilzt ist. In dieser beweglichen Gemeinsamkeit wird deutlich – um den bekannten Ausspruch Paul Watzlawicks zu paraphrasieren – dass man ‚nicht nicht tanzen‘ kann; es zeigt sich, dass es in diesem Raum keine unchoreographierte Bewegung gibt, sondern, dass alle von der Bewegung Einzelner abhängig sind und darauf reagieren müssen. Es handelt sich bei der Bewegung des ‚Publikums‘ also nicht um einen Negativraum der choreographierten Bewegung, sondern um ein dynamisches Feld, in dem zahlreiche Einflüsse zusammen kommen, und damit mit um einen partizipativen Raum.
Dieser, die Qualitäten zwischenmenschlicher Bewegungsstrukturen erforschende Ansatz, macht einen Teil des Stückes aus, doch es gibt noch einen zweiten. Das Aufmerksammachen auf vermeintlich selbstverständliche Vorgänge geht nämlich noch weiter und begann schon – wie jetzt klar wird – vor dem Beginn der eigentlichen Situation, die man als den Rahmen der Performance wahrnehmen würde. Und zwar in Form der putzenden Frau. Auch die ausgelegten Papiere kommen jetzt zurück in den Bühnenraum, in Form einer riesigen Menge von Konfettistreifen, die aus einem Aktenvernichter zu stammen scheinen. Der Papierkrieg, der vor Beginn des Stückes stattfand, belustigt nun die Leute, verliert seine starre Form, wird in einer riesigen Papierschlacht im ganzen Raum verteilt – und dabei macht jeder mit. So wird auch der ganze organisatorische Aufwand, der hinter dem Stück stand und erst dazu führte, dass das Publikum sich erfreuen kann, in den Bühnenraum geholt und greifbar. Genauso, wie die Aufräumarbeit, die nach dem Ausbruch zu leisten ist, und an der sich, nachdem ein älterer Herr beginnt, den Papierwust mit einem Besen zu zerteilen, alle beteiligen.
Darin stiftet das Stück in seiner experimentellen Auseinandersetzung mit urbaner Identitätsstiftung und Bewegung eine Art familiäres Gemeinschaftsgefühl, das wahrscheinlich durch den geschützten Raum ausgelöst wird, in dem all das stattfindet. Was zurück bleibt, ist eine warme Erinnerung an freudige Überschwänglichkeit, Bewegung und Bewegtheit – und einige Papierfetzen im Haar.