Wann: Fr 23.10. 20:00 + Sa 24.10. 20:00 + So 25.10. 18:00
Wo: tanzhaus nrw
Die Poesie der Brüche von Laura
„Fractus V“, ein neues Tanzstück des flämisch-marokkanischen Choreografen Sidi Larbi Cherkaoui, feierte am Freitag im tanzhaus nrw Deutschlandpremiere.
Können Frakturen eine Schönheit in sich tragen? Können sie aufzeigen, was zusammengehört? Sidi Larbi Cherkaoui hat sich ebendiese Frage gestellt und sie in seiner Choreografie „Fractus V“ zugleich mit Ja beantwortet. Und das in drei Dimensionen: Innerhalb von 70 Minuten setzt der belgische Choreograf Fragmente sowohl auf struktureller, inhaltlicher und bewegungssprachlicher Ebene zusammen und führt den Zuschauer durch seine ganz eigene Lyrik, der solch eine Schönheit und solch ein Fluss innewohnt, dass dieser sprachlos und zutiefst angerührt zurückbleibt. Cherkaoui nimmt den Betrachter dieses Schauspiels zusammen mit vier weiteren Tänzern (Dimitri Jourde, Johnny Lloyd, Fabian Thomé Duten und Patrick Williams Seebacher, auch bekannt als Twoface) und drei Musikern (Shogo Yoshii, Woojae Park und Soumik Datta) mit auf eine Reise, die in einen Rahmen aus Live-Musik, Tanz, Gesang und Sprechakten gebettet ist. Die Reise führt ihn an Grenzen, die zugleich immer aber auch Verbindungselemente darstellen und unter dem Einfluss der vielfältigen und herausragenden Leistung der Tänzer Brücken schlagen. Explizit handelt es sich bei diesen Grenzen um verheerende Einflüsse auf den Menschen, wie Kontrolle, Macht und Manipulation, am stärksten ausgehend von den Medien, Nachrichten und der Politik. Angelehnt an Noam Chomskys Thesen zur Meinungsfreiheit, ruft der Choreograf, der selbst als Tänzer auf der Bühne agiert, in Sprechakten dazu auf, sich von dieser Manipulation zu befreien und den Teufelskreis des Denkens über sorgenvolle Gedanken zu durchbrechen. Der Schlüssel dazu liegt im loslösenden Tanz, stets begleitet von den drei Musikern auf der Bühne.
Doch bevor diese Befreiung stattfinden kann, zeigt Cherkaoui die Grenzen auf, die Brüche in unserer Gesellschaft, in unserem Miteinander und Mensch-Sein. Klänge und Gesänge aus fernen Ländern, dessen Texte nicht verstanden werden, dessen Inhalt jedoch erahnt werden kann. Es sind Lieder über Schmerz, der sich auch in Verbindung mit dem Thema Gewalt in der Choreografie wiederfindet: Eine Schlägerei wird beispielsweise in Zeitlupe tänzerisch so realistisch dargestellt, dass der suggerierte Schmerz auf der Bühne im Publikum spürbar wird. Fasziniert von dieser tänzerischen Meisterleistung, die den fünf Männern alle Muskelkraft und Technik abverlangt, und gleichzeitig abgestoßen von der groben Gewalt, ist der Zuschauer mit seinem Blick an das Geschehen auf der Bühne gefesselt. So auch bei den etwas harmonischeren aber nicht minder faszinierenden Zusammenspielen zweier oder mehrerer Tänzer, wenn diese sich mit ihren Armen und Händen in fließenden Bewegungen ineinander verschränken und wieder lösen und auch an dieser Stelle erneut deutlich machen, wie einzelne Bruchstücke an Schnittstellen zueinander finden.
Dieser signalrote Faden zieht sich durch das Gesamtkonzept des Stückes und ist permanent sichtbar. So auch im Bühnenbild, das aus großen, dreieckigen Holzplatten besteht, die zu immer wieder neuen Landschaften zusammengefügt werden, aber auch einmal in ihrer lauten und zerstörerischen Wucht alles mit sich reißen, was ihnen im Wege steht. Die Tänzer bewegen sich in dieser Szenerie voller Selbstsicherheit, Leidenschaft und Anmut; die an manchen Stellen der Gruppenchoreografien fehlende Synchronität kann das hohe Maß an Ästhetik der Bewegungen nicht herabsetzen.
Sidi Larbi Cherkaoui hat mit „Fractus V“ ein höchst facettenreiches und vielschichtiges Tanzstück von enormem künstlerischen Wert geschaffen, weil es auf ganzer Linie gelingt, weil es Schnittstellen der Kunst vereinigt, weil es hinterfragt und auch den Zuschauer dazu anregt; weil es ausspricht und aufzeigt, ohne zu verschönern und weil es anrührt und mitten ins Herz trifft. Selten hat man solch andächtige Standing Ovations im Zuschauerraum erlebt wie nach dieser Aufführung!