Über „The Sea Within“ von Lisbeth Gruwez / Voetvolk

Wann: 24.01. + 25.01.
Wo: tanzhaus nrw
Reihe GROSS TANZEN

Grenzenlose Tiefe von Charlotte Decaille

Inwiefern sind Frauen prädestiniert, Opfer ihres Geschlechts zu werden? Verformt und zurechtgerückt, in eine Schublade voller Erwartungen und Anforderungen gesteckt – auch heute lassen die meisten gesellschaftlichen und sozialen Strukturen eine stereotypisierte Rollenverteilung und eine mehr oder minder offene Bevormundung von Frauen zu. Was und wie Frauen sein können, nach welcher Ordnung und nach welcher Zeit sie zu leben haben oder was ihr Körper alles tun darf, sollte nicht Teil einer öffentlichen Debatte, sondern eine Frage der Selbstbestimmung sein. Die belgische Choreografin Lisbeth Gruwez greift diesen immerfort bestehenden Konflikt auf und positioniert in ihrer Performance „The Sea Within“ im Rahmen der Reihe GROSS TANZEN im Tanzhaus NRW zehn Tänzerinnen der Kompanie Voetvolk als Individuen, als starke Persönlichkeiten und als eine noch viel stärkere Gruppe, die sich solidarisch gegen das leidvolle Erdulden gesellschaftlicher Stereotypen stellt und sich in ästhetischer Form von diesen verabschiedet.
Die Performerinnen erobern nacheinander auf individuelle Art und Weise die immer heller werdende Bühne. Sie scheinen sich von nahezu unmerklichen inneren Zuständen zu eigenständigen Persönlichkeiten zu entfalten, zeigen sich als Individuum einer temporären Gemeinschaft. Die Kleidung der Tänzerinnen ist schlicht und trotz vital sportlicher Einheitlichkeit heterogen gehalten und besteht aus einem einfachen T-Shirt und Panty. Leise, doch unverkennbar sind im Hintergrund pfeifende Klänge zu hören, die mit dem Zusammenschmelzen der Tänzerinnen in die minimalistischen elektronischen Sounds von Maarten van Cauwenberghe überfließen. Ohne sich körperlich zu berühren, sammeln sich die Tänzerinnen zu einem skulpturalen Geflecht, welches augenscheinlich von intensiven wellenartigen Bewegungen erschüttert wird. Die heterogene Gruppe droht zu zerfallen. Einzelne Performerinnen schwanken, verlieren das Gleichgewicht, doch finden Halt in den Armen ihrer Mittänzerinnen.
Die Tänzerinnen befinden sich nach dem aufbrausenden Wellengang wieder bei sich selbst und ihren eigenen Bewegungen und Impulsen. Es ist ein konsequentes Auf- und Abebben, ein ständiges Formieren einer organischen Gruppe und einer Vereinzelung im ursprünglichsten Sinne des Wortes: Ich bin ich. Die Zuschauer*innen werden Zeuge eines faszinierenden Wechsels zwischen kontrolliertem Chaos und instinktiver Ordnung. Abrupt verfallen die Tänzerinnen in eine erregte Dynamik, eine explosive Szene von besessenen Körpern. Nervöses Flüstern und exzessives Atmen, angespanntes Grimassieren und krampfhafte Bewegungen überkommen sie, unbeherrscht, als gäben sie sich den unterdrückten Tiefen ihres Inneren vollkommen hin, ohne Rücksicht auf mögliche Toleranz-Grenzen ihrer Außenwelt. So unvorhersehbar und unvermittelt wie die Wellen des Meeres, bewegen sich die Performerinnen nach ihren eigenen Gezeiten, ihrer eigenen Ordnung und ihrem eigenen Rhythmus. Nach diesem impulsiven Ausbruch chaotischer Empfindungen, kehrt eine gewisse Besonnenheit ein, die keinesfalls mit Resignation zu verwechseln ist. In Zeitlupe bewegen sich die Performerinnen zaghaft, doch gleichzeitig selbstbewusst, als hätte es die beunruhigenden Szenen zuvor nicht gegeben.
Gruwez und die zehn Performerinnen nutzen in „The Sea Within“ das Exzessive jeder denkbaren Ausdrucksform und den Wechsel von Chaos und Ordnung, um die Frau als selbstbestimmtes Geschlecht zu verkörpern. Chaotische Ausbrüche sind keine Hysterie, sondern Ausdruck von Stärke und Furchtlosigkeit. Die Performance hebt stereotypische Verhaltensweisen auf, setzt jedoch gleichzeitig keine neuen, sondern gibt sich undefinierbaren Grenzen und unvorhersehbaren Witterungen voll und ganz hin. Befremdliche Fratzen, überspitzte und laszive Bewegungen, ein Ziehen und Verschieben des eigenen Körpers, provokante Blicke ins Publikum sind eine Herausforderung an die eigene Person. Doch vor allem fordern sie das streng strukturierte Bühnen-Umfeld heraus, um der dominierenden und inspirierenden Weiblichkeit, direkt und ohne Umschweife, einen anerkannten und respektierten Raum zu geben. „The Sea Within“ bietet diesen Raum in solch greifbarer Authentizität und entlässt uns Zuschauer*innen mit einem nachhaltig bestärkten Gefühl der eigenen Weiblichkeit und Individualität.

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